Der französische Philosoph Gregoire Chamayou hat mit „Die unregierbare Gesellschaft“ (Suhrkamp) ein starkes Buch vorgelegt, welches die neoliberale Ideologie und die brutalen Folgen dieses weltweit ökonomisch hegemonialen Regimes ausführlich beschreibt. Allen Aktivist*innen, die sich auch bspw. aus Gründen des Klimawandels mit Großkonzernen anlegen, sei dieses Buch ans Herz gelegt – know your enemy!

Der Neoliberalismus geht von einem Prinzip aus, welches ein angebliches Recht auf Profit ohne Einschränkung garantiert und somit alles, was angeblich oder real in dieses vermeintliche Recht eingreift (staatliche Regulierung, Gewerkschaften, renitente Arbeiter*innen u.v.m.), als sozialistisch diffamiert. So geschehen u.a. anlässlich des Mehrwegsystems bei Dosen und Flaschen wie auch dem öffentlichen Nahverkehr. Ersteres zwingt Unternehmen zum Aufbau eines Pfandsystems, welches den Unternehmen Geld kostet und damit den Profit mindert und letzterer führt qua Existenz dazu, dass die Pkw-Industrie weniger Autos verkauft.

Der Autor Gregoire Chamayou selbst weist daraufhin, dass seine Analyse die Sichtweise „von oben“ beschreibt und nicht aus der Perspektive derjenigen geschrieben ist, die diesem Terror ausgeliefert sind und dennoch zum Teil einen bewundernswerten Widerstand gegen dieses kapitalistische Prinzip leisten. Dennoch oder auch gerade deswegen ist das Buch äußerst lesenswert. Chamayou schreibt in erster Linie über die USA, weil er sich dort am besten auskennt, wie er selbst mitteilt.

Ausführlich werden die Kämpfe zwischen Keynesianisten und Neoliberalen schwerpunktmäßig seit dem zweiten Weltkrieg beschrieben. Zum Schrecken der neoliberalen Fraktion gestaltete sich die Zeit von Mitte der Vierziger bis Mitte der Siebziger als keyensianistische Periode. Aus Kapitalsicht waren die Kämpfe der 1960er Jahre bedrohlich, denn es brodelte auch in den Fabriken. Absentismus, Sabotage und allgemeine Verweigerungshandlungen erforderten neue Strategien und Antworten. Unter den Arbeiter*innen schien es keine Angst mehr vor Entlassungen, Lohndumping, Verschärfung der Arbeitsbedingungen etc. zu geben. Das musste sich aus Sicht der Bosse ändern. Mit dem faschistischen Putsch in Chile wurde ein neoliberales Labor geschaffen, in dem die Panzer der Generäle Friedhofsruhe im Arbeitskampf garantierten und den „Chicago-Boys“ (Absolventen des ökonomischen Lehrstuhls von Milton Friedman an der Uni von Chicago) allen Raum für ihre neoliberalen Experimente gaben. Mit der Wahl von Thatcher (1979) und Reagan (1980) endete auch in Westeuropa sowie den USA das Zeitalter des Keyensianismus und die Neoliberalen übernahmen die ideologische und ökonomische Macht.

Neoliberale Protagonisten wie Friedrich Hayek und Milton Friedman unterstützen höchstpersönlich u.a. die blutige Diktatur von Pinochet in Chile und berieten die Junta in wirtschaftlichen Fragen. Chamayou beschreibt auch ausführlich, wie diese und andere Neoliberale den Staat einerseits am liebsten abschaffen würden, weil dieser das Kapital angeblich nur in dessen freier Entfaltung und dem angeblichen Recht auf ungehemmte Profitmaximierung behindere, andererseits ihn aber dringend benötigen, damit Streikende und andere Aufrüher*innen vom staatlichen Gewaltmonopol in Schach gehalten werden können.

Der Autor schildert aber immer wieder auch Aspekte des Klassenkampfes und wie die Kapitalfraktion lange Zeit auf Kämpfe von unten reagiert, bzw. wie die Ratschläge neoliberaler Strategen hierzu lauten. Starke Zitate finden sich sowohl im Buch wie in den reichlich vorhandenen Anmerkungen. Als nur ein ausgewähltes Beispiel von 1958 wird hier immerhin der Harvard Business Review zitiert:

die Unternehmer sollten […] kämpfen, als ob sie im Krieg wären. Und wie jeder richtige Krieg sollte auch dieser tapfer, verwegen und vor allem ohne Moral geführt werden.

Besonders lesenswert sind die Abschnitte und Kapitel, in denen die Strategie multinationaler Unternehmen auf Kritik von außen, bpsw. von Umweltschützer*innen, Anti-Apartheid-Aktivis*tinnen und anderen dargestellt werden. Vieles kommt einem bekannt und aktuell vor, auch wenn es sich um längst vergangene Kämpfe handelt.

Denn spätestens mit den Kämpfen der1960er Jahre schien die oben zitierte militante Kriegsrhetorik nicht mehr opportun. Es ging jetzt nicht mehr um direkte sprachliche Vernichtung, sondern eher um Ersticken durch Umarmung. Was bis dahin als „Angriffe“ wahrgenommen wurde, wird mehr und mehr als „Kritik“ verstanden – jedenfalls nach außen. David Rockefeller von der Chase Manhattan Bank war einer der ersten, die das Prinzip der Verwertung von Kritik als Chance für das Kapital entdeckten und sich außerdem ein besseres Image in der öffentlichen Wahrnehmung mit angeblich verständnisvollen Reaktionen erhofften. Andere Multis zogen schnell nach, General Motors stand bereits vor 50 Jahren im Fokus der Kritik von Umweltschützer*innen. Auf der Jahreshauptversammlung von GM im Jahr 1970 wurde eine Broschüre an die Aktionär*innen verteilt, in der der unglaubliche Sätze zu lesen waren, wonach sich

GM verpflichtet, im Hinblick auf unsere Produkte und unsere Fabriken das Problem der Luftverschmutzung zu lösen […] Unsere Manager haben sich unwiderruflich dazu verpflichtet, schnellstmöglich eine Lösung für das Problem der Abgasemissionen zu finden.

Chamayou kommentiert diese Zitate lakonisch mit großer politischer und historischer Erfahrung:

Versprechen verpflichten allerdings nur diejenigen, die an sie glauben.

Da viele Multis aber noch Schwierigkeiten hatten, so viel Kreide zu fressen, um sanfter in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, mussten professionelle Agenturen und Ratgeber ran. Chamayou beschreibt dies exemplarisch an zwei großen Boykottkampagnen der 1970er und 80er Jahre, dem Nestlé-Boykott und dem Südafrika/Shell-Boykott. Beide Bewegungen waren politisch breit aufgestellt von kirchlichen Initiativen bis hin zu linksradikalen und autonomen Strukturen. Und sie waren äußerst international. Damit wurden sie zu potentiellen Bedrohungen mindestens für das Image der beteiligten Multis und spätestens damit auch zu einer Gefahr für die Profitrate. Nestlé reagierte anfangs auf den Boykott in althergebrachter Kriegsrhetorik. Alle Unterstützer*innen des Boykotts waren gottlose Kommunisten, inklusive der US-amerikanischen Kirchen.

Diese Strategie konnte nicht lange gutgehen. Also musste Neuland beschritten werden. Zuerst wegen des Nestlé-Boykotts, später auch wegen Südafrika/Shell wurde der gleiche Counterpart ins Spiel gebracht, der auch heute noch im Klimakampf auf Seiten der Klimaleugner tätig ist. Pagan International hieß die Firma damals, seit Mitte der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts ist in teilweiser personeller Kontinuität Stratfor für das schmutzige Geschäft zuständig. Ein ehemaliger Delta Force Kämpfer – eine US-Army-Eliteeinheit – (Rafael Pagan) und ein Journalist (Jack Mongoven) verstanden sich sofort als Brüder im Geiste und begannen Konzepte zur Aufstandsbekämpfung zu entwerfen, die heute – knapp 50 Jahre später – noch hochaktuell sind und von der Gegenseite immer noch angewendet werden. Stratfor ist heute selbst ein weltweit tätiges Unternehmen mit einer streng geheimen Kundenliste und wird von diversen Medien als „privater Geheimdienst“ bezeichnet.

Die Boykottakteur*innen wurden umfassend analysiert, klassifiziert und entsprechende Counter-Strategien ausgetüftelt. Neben dem altbekannten teile-und-herrsche-Prinzip wurde die Strategie des Dialogs entdeckt und bis zum Erbrechen angewendet. Wer mit dem Gegner redet, beschäftigt sich notgedrungen mit etwas anderem als der ursprünglichen Boykottkampagne. Wer im Dialog etwa über gemeinsame Erklärungen an einzelnen Begrifflichkeiten und Worten feilscht, ist eingebunden auf dem Terrain des Gegners. Rafael Pagan hatte die bewusste Strategie, die Aktivist*innen in endlose Palaver zu verstricken, wo er so tat, als würde es auch ihm um so etwas wie eine gemeinsame Erklärung gehen. Gleichzeitig setzen sich ja nie alle Fraktionen einer Kampagne mit Vertretern der Multis an einen Tisch – und schon ist ein unschöner Spaltpilz in die Bewegung getragen (Kohle-Kompromiss, ick hör dir trapsen). Ein solcher Dialog war nie als ernsthafter Austausch von Argumenten oder gar Verhandlungen auf Augenhöhe gedacht, er war eine andere Art, den Kampf zu führen und die Kampagne zu brechen. Wenn ersteinmal die Front der Gegner gebrochen ist, hat das Kapital leichtes Spiel. Isolierte Radikale – die sich dem „Dialog“ verweigern – sind viel leichter zu bekämpfen, als wenn alle an einem Strang ziehen in einer Kampagne.

Ein weiteres probates Mittel zur Brechung von Kampagnen ist die Mobilisierung „eigener“ Aktivisten. Krebskranke, die sich öffentlich für die Zulassung neuer gen-manipulierter Medikamente stark machen, Windkraftgegner*innen, die sich für Naturschutz engagieren, etc. Anlässlich des Südafrika/Shell-Boykotts wurden auch eigene „gelbe“ NGO’s gegründet und mit reichlich Geld ausgestattet, um unter falscher Flagge zu segeln und sich vermeintlich aus Aktivist*innensicht gegen einen Boykott auszusprechen.

Zurück zum Pfandsystem (s.o.), bis in die 1930er Jahre gab es in den USA ein gut funktionierendes Mehrwegsystem für Flaschen. Die dann erfolgte Erfindung der Einwegblechdose für Getränke verminderte den Anteil der Mehrwegflaschen dramatisch. Viele Menschen hatten die Botschaft der Industrie (leider) begriffen: der unschlagbare Vorteil von Wegwerfprodukten ist eben der, dass man sie im hier und jetzt jederzeit wegwerfen kann. Nachdem in zwei US-Bundesstaaten (Oregon und Vermont) Anfang der 1970er Jahre per Gesetz die Wiedereinführung des Pfandsystems beschlossen wurde und in weiteren Bundesstaaten Volksentscheide über diese Fragen anstanden, reagierten die Kapitalfraktionen entsprechend:

Wir müssen diese Volksentscheide zum Flaschenpfand […] mit allen Mitteln bekämpfen. Es sind Kommunisten oder Leute mit kommunistischen Ideen, die versuchen, diese Staaten auf den Weg von Oregon zu bringen.

Insofern empfehlen wir dieses Buch oder auch mindestens die Kapitel 14-16 als Pflichtlektüre für alle heutige Aktivist*innen, die sich mit großen Unternehmen anlegen. Aber auch für alle anderen!

Links-Lesen.de-Kollektiv im Januar 2020